Z W E I M A T |
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Almancı-Geschichten: »Zweimat« sind Geschichten von Migrant*innen, die aus der Türkei kamen und in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Die Geschichten haben ihren Ausgangspunkt in dem 1961 geschlossenen Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Es war eine leise, pragmatische Vereinbarung – mit ungeahnten und bis heute prägenden Folgen für die deutsche Gesellschaft: In einem zweiseitigen Dokument, deutlich kürzer als jeder Arbeitsvertrag, regelte das Auswärtige Amt in Bonn mit der türkischen Botschaft am 30. Oktober 1961 die Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland. Für viele von ihnen wurde Deutschland zur »Zweimat«. Bei Weitem nicht so präsent, aber dennoch existent ist der umgekehrte Weg. In den 1920er- bis hinein in die frühen 1950er-Jahre war die Türkei für viele Kunst- und Kulturschaffende aus Deutschland, in den 1930er- und 1940er-Jahren auch für Menschen jüdischen Glaubens – zumindest vorübergehend – eine neue Heimat, im besten Fall sogar »Zweimat«. Namen wie Ernst (und Edzard) Reuter, Bruno Taut, Margarete Schütte-Lihotzky, Paul Bonatz, Wilhelm Schütte oder Robert Vorhoelzer u. v. a. stehen für diese Dekaden. Dieser »umgekehrte Weg« ist sicherlich nicht vergleichbar mit dem hier vorgestellten Projekt und die Beweggründe waren ganz andere. Auch wenn es für viele mehr Exil als »Zweimat« war, zumindest in der türkischen Sprache haben sie eine Spur hinterlassen. Der Begriff »haymatloz« zeugt vom Scheitern des Versuchs, eine neue Heimat oder gar »Zweimat« zu finden. Auch heute finden wieder Ausgewiesene und Dissidenten aus der Türkei in Deutschland und seinen Nachbarländern einen Zufluchtsort, im besten Fall sogar eine „Zweite Heimat“. So unterschiedlich die Beweggründe waren und sind und auch wenn nicht immer „Zwei Heimaten“ aus ihnen hervorgegangen sind – manchmal „nur“ vorläufige „Lebensprovisorien“ – so wollen wir dennoch versuchen, diesen nachzuspüren und sie zu dokumentieren. Mit unserem Buchprojekt »Zweimat« begeben wir uns auf Spurensuche nach den Menschen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind. Wir lassen unsere Autor*innen ihre ganz persönlichen Geschichten erzählen – mit Worten und mit Fotos. Es sind Geschichten von Heimat, vom Weggehen, Ankommen, Bleiben und Wurzeln-Schlagen. Geschichten vom Heimisch-Werden in der »Zweimat«. Der beiderseitige Nutzen dieser Vereinbarung lag auf der Hand: Die Wirtschaft in der Bundesrepublik boomte, aber es gab nicht genügend Arbeitskräfte. In der Türkei hingegen waren viele junge Menschen arbeitslos. Also schickte man sie nach Deutschland, und sie kamen bereitwillig. Ähnliche Abkommen waren zuvor mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) geschlossen worden. Weitere Verträge mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien sollten folgen. Die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland aufbrachen, hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie besaßen einen Arbeitsvertrag und sie waren türkische Staatsbürger*innen. Ansonsten wiesen sie in vielerlei Hinsicht mehr Diversitäten als Gemeinsamkeiten auf: Die vielschichtige und bunte Bevölkerung in der Türkei setzt sich zusammen aus Menschen unterschiedlicher Ethnien, Glaubensrichtungen und politischen Überzeugungen. Gesund und kräftig sollten sie sein. Das wurde in medizinischen Untersuchungen überprüft. Ihre Motive, nach Deutschland zu gehen, waren vielfältig. Viele sahen darin eine Chance, der Arbeitslosigkeit in ihrem Land zu entfliehen. Manche nutzten die Gelegenheit, um ein unabhängigeres Leben zu führen, die Fesseln traditioneller Familienstrukturen abzustreifen, mehr von der Welt zu sehen. Oder sie gingen mit der Hoffnung, in Europa studieren zu können. Für andere war es eine Flucht – vor Armut, Unterdrückung und Verfolgung. Mit dem geplanten Buch »Zweimat« möchten wir vom Standpunkt der Gegenwart aus 62 Lebensgeschichten von Menschen betrachten, deren Eltern damals ihre Heimat in der Türkei verlassen haben und als »Gastarbeiter*innen« nach Deutschland gegangen sind. Erzählungen der Kinder und Enkel, die in Deutschland geboren wurden, Geschichten von Integration und Zerrissenheit, Frustration, Erfolg und Glück. Mit ihren eigenen Worten erzählen sie ihre Geschichten, zeigen sie ihre Bilder. Von Karrieren wie zum Beispiel denjenigen der BioNTech-Gründer*innen Özlem Türeci und Uğur Şahin, von Belit Onay, dem Oberbürgermeister von Hannover, aber auch von Menschen, die Tür an Tür mit uns wohnen. Es gibt viele unterschiedliche Blickwinkel auf die deutsch-türkische Geschichte und unendlich viele Erlebnisse, Emotionen und persönliche Schicksale. Mit einer spannungsvollen und tiefgründigen Zusammenstellung der gesammelten Beiträge und Interviews mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten möchte »Zweimat« diese besondere Historie festhalten. Die Autor*innen sollen diesen Abschnitt der Geschichte authentisch repräsentieren und eine möglichst große Vielfalt hinsichtlich Lebenswirklichkeit und Erfahrungshorizont aufweisen. Sie gehören unterschiedlichen Generationen und Milieus an, üben vielfältige Tätigkeiten aus und sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß medial präsent oder auch gänzlich unbekannt. Das bedeutet: Wer kein passendes Bildmaterial für die eigene Geschichte hat, bekommt so die Möglichkeit, sich entsprechende Fotos in der Galerie zu suchen. Fotografien, die bereits ausgewählt wurden und somit nicht mehr zur Verfügung stehen, werden in der digitalen Galerie rot markiert. Der Beitrag sollte nicht länger als zwei Textseiten sein (ca. 3.500 Zeichen), er kann auf Deutsch oder in Türkisch verfasst werden. Wir hätten auch gerne eine Kurzbiografie von den Autor*innen (höchstens ca. 600 Zeichen). Alle Beiträge werden vom Verlag lektoriert. Die Auswahl der Texte für das Buch wird durch die Herausgeber*innen vorgenommen. |